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L E H R E R M A N G E L

Ein Königreich für einen Lehrer

Aus dem Nichts taucht ein neuer Schrecken auf im Land der Schulmisere: Lehrermangel. Jetzt jagen die Kultusminister einander Pädagogen ab.

Von Roland Kirbach und Martin Spiewak

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Ein Absturz ins Bodenlose geht auch an einem hartgesottenen Politiker wie Klaus Böger nicht spurlos vorbei. Müde sieht er aus, um die Augen haben sich dunkle Ringe gelegt. Er saugt an seinem Zigarillo: "Ja, es schmerzt, als Buhmann hingestellt zu werden" - ganz besonders, wenn man früher everybody's darling war. Als SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus gewöhnte sich Böger an Spitzenwerte bei Meinungsumfragen, führte manchmal sogar die Beliebtheitsskala Berliner Politiker an. Doch seit er vor gut einem Jahr auf den Posten des Schulsenators wechselte, ist sein Renommee gesunken und nun dahin. Bei der jüngsten Umfrage landete er auf dem letzten Platz. Er kennt den Grund: "Ich werde mit dem derzeitigen Stand des Berliner Bildungssystems identifiziert."

Der ist so miserabel wie Bögers Umfragewerte: Viele Schulen der Hauptstadt sind marode; die Lehrerschaft ist überaltert und dauernd krank, Fehlstunden in vielen Berliner Klassen sind bereits eine feste Größe im Stundenplan. Linke Lehrergewerkschafter verbünden sich mit konservativen Bildungsbürgern gegen die Sparpolitik des Senats und machen ihrem Unmut mit Sternmärschen auf das rote Rathaus Luft. "Böger, Berlins Schüler werden immer blöder", musste der Schulsenator auf Transparenten vor seinem Fenster lesen.

Böger kennt solche Parolen, an die Schulmisere scheinen sich die Kultusminister gewöhnt zu haben. Doch mit einem Mal tauchen Engpässe auf, die als überwunden galten. Neue Lehrer, mehr Lehrer, lautet die heftige Forderung - die Böger nicht erfüllen wird. Nicht nur, weil das Geld fehlt. Auch Lehrer fehlen. Jahrelang schob Berlin einen Berg arbeitsloser Lehrer vor sich her. Jetzt werden sie gebraucht. Und plötzlich sind sie nicht mehr da. Scheinbar über Nacht mangelt es an Lehrern - in Berlin wie auch anderswo in Deutschland.

Es mangelt an Lehrern? Fast zwei Jahrzehnte gab es doch nur eine Wahrheit: Wir haben zu viele davon. Das Lehramtsstudium galt als so teure wie sichere Anwärterphase auf Arbeitslosigkeit oder Umschulung - der Taxi fahrende Deutschlehrer ist längst zum Klischee geworden. Und nun herrscht plötzlich Lehrermangel?

Zurzeit gibt es beides, den Mangel und den Überfluss. Nach Schätzungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) haben 30 000 ausgebildete Pädagogen in Deutschland keinen Job, jedenfalls nicht an einer Schule. Gleichzeitig jedoch suchen Berufsschulen und Einrichtungen für Lernbehinderte seit langem händeringend Lehrernachwuchs. Schon heute müssen Lehrer, die eigentlich ein anderes Fach studiert haben, so genannte Randfächer wie Musik und Religion abdecken. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise werden bereits 80 Prozent der Musikstunden fachfremd erteilt. Im vergangenen Jahr griff der Mangel dann auf die Naturwissenschaften über. Und selbst Massenfächer wie Englisch oder Deutsch sind plötzlich von Auszehrung bedroht.

Eine fünftägige bundesweite Telefonaktion wurde gestartet, bis die Hamburger Schulbehörde vor Weihnachten einen Lehrer für Mathematik und Physik fand. Das "Bildungsland Hessen" (Eigenwerbung) geht die Sache professioneller an und wildert mithilfe von Plakaten und überregionalen Zeitungsanzeigen in anderen Bundesländern, um den eigenen Nachwuchsbedarf zu decken. Damit hebelt die Regierung in Wiesbaden eine alte Regel aus den Zeiten des Überflusses aus, die da hieß: Lehrer, bleib auf deiner Scholle. Wer sich als Lehrer in einem anderen Bundesland bewarb, wurde lange Zeit "von vornherein aussortiert". Als Beamter konnte man nur im Tausch die Landesgrenzen überspringen.

"Da sterben ganze Kollegien aus", klagt ein Schulleiter

Nun hat Hessens Schulministerin Karin Wolff (CDU) der "mittelalterlichen Schollenbindung" ein Ende gesetzt. Täglich stelle man neue Schulkräfte als Beamte ein - selbst dann, wenn die Lehrer als Aushilfskräfte in anderen Bundesländern unter Vertrag stehen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) verurteilte die Abwerbekampagne. Die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Gabriele Behler (SPD) spricht von "Wildwest-Methoden" und schießt zurück: mit eigenen Lehrer-Suchappellen in Frankfurter Zeitungen.

Die Politik hat die Bildung wiederentdeckt und schielt auf gute Noten beim Wähler. Hessens Ministerpräsident Roland Koch hatte den Missstand als Erster aufgespießt. Er versprach den Eltern im Wahlkampf vor zwei Jahren eine Unterrichtsgarantie: Keine einzige Stunde sollte mehr ausfallen. Dafür will die Landesregierung in drei Jahren 2300 zusätzliche Lehrer einstellen.

Das Versprechen hat den Länderkrieg um junge Lehrer zusätzlich angeheizt. Drei bis vier Seiten umfasste der Stellenteil für Lehrer des Hessischen Amtsblattes in den vergangenen Jahren. In der neuesten Ausgabe ist er 140 Seiten stark. Noch beschränkt sich die Suche nur auf Mangelfächer. Geografie- oder Sportlehrer haben nach wie vor weder in Hessen noch in Nordrhein-Westfalen große Chancen. Doch schon bald dürfte das Lehrerdefizit zum fächerübergreifenden Problem werden. Das mittlere Alter deutscher Schulmeister liegt bei 47 Jahren, jeder fünfte ist älter als 55 - und wird sich in den kommenden Jahren in die (Früh-)Pension verabschieden. Eine Lehrergeneration tritt komplett ab. "Da sterben ganze Kollegien aus", prophezeit ein hessischer Schulleiter. Das wäre nicht weiter schlimm, gäbe es entsprechend viele Junglehrer. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Zahl der Studenten in den pädagogischen Seminaren geht seit langem drastisch zurück. "Von 2005 an könnte es dramatisch werden", warnt der Bildungsexperte Klaus Klemm von der Universität Essen.

Die ungünstige Altersverteilung in deutschen Schulen, eine kurzsichtige Einstellungspolitik der Kultusbehörden sowie die Räuberei von Wirtschaft und Industrie unter Jungpädagogen mit technischem und naturwissenschaftlichem Schwerpunkt: Die Lehrerlücke hat viele Ursachen, und sie droht von Jahr zu Jahr weiter aufzureißen. Zu spät kommt der Aufruf des Bremer Schulsenators Willi Lemke, die Abiturienten mögen doch bitte den Lehrerberuf ergreifen. "Egal, was die Kultusminister jetzt unternehmen: Es gibt so schnell keine neuen Lehrer", sagt Martin Fischer, Vorsitzender der Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren. Er sieht eine neue "Bildungskatastrophe" auf die Republik zurollen.

Für viele Eltern, Experten und Politiker ist sie schon da. Längst gehören aufsässige Kinder im Unterricht und gewalttätige Jugendliche auf dem Pausenhof zum Schulalltag. Eltern klagen über Unterrichtsausfall und fehlende technische Ausrüstung in den Schulen. "Man hat das Gefühl, Schule ist nicht mehr viel wert", meint die Vorsitzende des deutschen Elternvereins, Heidemarie Mundlos. Internationale Studien, die Schulleistungen miteinander verglichen, untermauern die diffuse Krisenstimmung wissenschaftlich: Deutsche Schüler belegten nur einen enttäuschenden Platz im Mittelfeld, hinter ihren Alterskollegen aus Japan, Korea oder Skandinavien - und das in Zeiten, in denen es zum Allgemeinplatz wurde, dass Wissen die wichtigste Waffe im globalen Konkurrenzkampf ist.

Die Schuldigen an der Misere waren schnell gefunden: Wer, wenn nicht Deutschlands 750 000 Lehrer? Arbeitsscheu, reformunwillig, rückständig - und das trotz ausgedehnter Freizeit, hohen Gehalts, Jobgarantie und Pensionssicherheit. Dieses Klischee findet nach wie vor viel Beifall. Mit Vorliebe fotografieren die Medien die Müßiggänger der Zunft beim Dauerkuren auf Sylt.

Natürlich werden solche Bilder der Mehrzahl der Pädagogen nicht gerecht. Lehrer arbeiten - Ferien und früher Unterrichtsschluss mitgerechnet - im Schnitt sogar mehr als andere Angehörige des öffentlichen Dienstes. Das ergaben unterschiedliche offizielle Erhebungen. Über die Qualität ihres Schaffens freilich gehen die Meinungen auseinander. Fest steht: Da praktisch über 15 Jahre kaum junge Studienabgänger nachwuchsen, hielt sich der Reformeifer vieler Kollegien in Grenzen. Neue pädagogische Erkenntnisse oder Unterrichtsmethoden schafften es nur langsam aus dem Uniseminar in den Klassenraum. Viele Reformer sahen den Generationswechsel als Chance der Erneuerung. Nun ist es so weit: Die Alten gehen. Doch die Jungen, die sie ersetzen sollen, fehlen.

Als das Kollegium der Helmholtz-Schule sich nach den großen Ferien zurückmeldete, standen vier Plätze überraschend leer. Zwei Lehrer hatten schon vor der Sommerpause ihre Pensionierung eingereicht. Zwei weitere fielen von einer Woche zur anderen wegen Dauerkrankheit im laufenden Schuljahr aus. Am Ende des Jahres hat das Gymnasium im Frankfurter Ostend insgesamt 12 Pädagogen, die meisten Frauen, eingebüßt.

Den Zerfallsprozess des Kollegiums hatte eine Änderung im Versorgungsrecht für Beamte beschleunigt, auf die das hessische Kultusministerium in den Sommerferien mit einem Brief ausdrücklich noch einmal hingewiesen hatte: Wer bis Ende des Jahres 2000 vorzeitig in den Ruhestand ging, erhält die Pension noch in voller Höhe. Von diesem Jahr an müssen Abschläge von bis zu zehn Prozent hingenommen werden. In Hessen scheint die Neuregelung besonders viele Lehrer außer Gefecht gesetzt zu haben: Die Zahl der Frühpensionen im abgelaufenen Jahr schnellte auf das Doppelte hoch.

Einige der betroffenen Schulen konnten den rapiden Schwund mit Vertretungen und Mehrarbeit ausgleichen. Was aber tun, wenn wie im Fall der Helmholtz-Schule ein Fünftel des Kollegiums ausfällt - und sowohl der Schulleiter als auch sein Stellvertreter fehlen? Wenn, kaum dass ein Loch in der Unterstufe gestopft ist, sich in der Mittelstufe ein neues auftut? Dann bleibt nur kürzen, zusammenstreichen und Lösungen in Kauf nehmen, die jeder Schulpädagogik Hohn sprechen.

Drei verschiedene Klassenlehrer innerhalb von zwei Jahren

In den Klassen neun und zehn wird Geschichte nur noch halbjährlich unterrichtet, in der zweiten Fremdsprache Französisch fällt eine Stunde pro Woche aus. Der Ethik-Unterricht ist in der gesamten Mittel- und Unterstufe gestrichen. Eine siebte Klasse musste sich innerhalb von zwei Jahren hintereinander an drei Klassenlehrer gewöhnen, eine neunte an vier Deutschlehrer in gut einem Jahr. "Die Kinder sind verunsichert und wissen nicht, woran sie sind", sagt Vertrauenslehrer Werner Bartsch, der in diesem Schuljahr Klassenlehrer von gleich drei Klassen ist. Bei einigen Schülern schlagen Unterrichtsausfall und Lehrerwechsel auf die Arbeitsmoral. Vertretungslehrerin Michaela Blatt klagt: "Die scheinen sich an den Schlendrian gewöhnt zu haben."

Blatt ist erst 28 Jahre alt und damit drei Jahrzehnte jünger als die meisten ihrer Kollegen. Als sie an die Schule kam, freuten sich Eltern und Kinder über endlich "mal jemand Jüngeres". Da in den vergangenen 15 Jahren kaum ein neuer Lehrer hinzukam, ist das Kollegium wie eine lebenslange Schulklasse gemeinsam gealtert. Der Altersdurchschnitt an der Helmholtz-Schule beträgt 52 Jahre, einige Lehrer könnten die Großeltern ihrer Schüler sein. Wer sich heute im Lehrerzimmer umschaut, blickt auf graue Köpfe und in nicht wenige graue Gesichter.

Kaum jemals zuvor war die deutsche Lehrerschaft so weit von den Gedanken und Gefühlen, Moden oder Musikstilen ihrer Schüler entfernt wie heute. Gestern "Pokémon", heute "Digimon" oder "Tony Hawks Scater Pro 2", morgen die neueste coole, interaktive Website im Internet: Die In-Kreisläufe drehen sich so schnell, dass kaum ein Lehrkörper mehr hinterherrennen kann. Und selbst wenn er sich abmüht mitzureden - bei einem 50-Jährigen wirkt das schnell komisch.

Lehrer und Schüler trennen allerdings nicht nur Lebensjahre, sondern auch Lebenswelten. Nach einer Untersuchung der Universität Karlsruhe stammen 64 Prozent der Lehrer aus dem so genannten liberalintellektuellen Milieu - das in der Gesamtbevölkerung nur mit zehn Prozent vertreten ist. Der gemeine Lehrer denkt umweltbewusst, diskutiert Dinge gern aus und pflegt eine ausgeprägte Abneigung gegen "sinnentleerten" Konsum. Solchen Menschen müssen Kinder fremd bleiben, die per SMS und E-Mail kommunizieren und die bereits mit 12 Jahren darauf achten, die richtige Unterhose zu tragen, deren Markenschild (Deal) über der Hose herausschauen muss. "Das ist eine Fun-Generation, deren Lieblingsvokabel ich heißt", klagt ein Lehrer, der seit 40 Jahren an der Schule ist.

Das Beamtenrecht sorgt für Sozialismus auf hohem Niveau

Kulturelle Barrieren belasten das Lehrer-Schüler-Verhältnis zusätzlich. Aus zwei Dutzend Nationen und unterschiedlichen religiösen Traditionen stammen die Kinder an der Frankfurter Helmholtz-Schule. Für ihre Lehrer gilt durchgängig: weiße Haut, deutsche Herkunft, christlicher Hintergrund.

Schule ist schwieriger geworden, so ist die Stimmung im Kollegium. Nicht allein der Unterricht, doch der auch. Die Zeiten, da man sich auch einmal mit Wir-schlagen-Seite-vierzig-auf-und-lösen-still-die-Aufgaben behelfen konnte, liegen viele Jahre zurück. "Da sitzen 30 Vierzehnjährige vor einem und wollen ständig unterhalten werden", sagt eine Deutschlehrerin. Die Zeitspannen, in denen die Schüler zur Konzentration fähig sind, sind kürzer geworden. Dann der permanente Lärm, das Geschrei in der Pause, das Gerede, Geflüster im Unterricht. Und immer aufpassen, dass keiner ausschert. 45 Minuten lang, fünfmal am Tag, jede Woche erneut, 30 Jahre lang. Daneben Austauschprogramme, Projektwochen und, wer Pech hat, Nachtsitzungen mit Korrekturen. "Durchlöchert" sei sie sich am Ende vorgekommen, sagt Deutsch- und Englischlehrerin Ingrid Krumscheid, die im Sommer in Pension ging, mit 59 Jahren.

Kaum ein Lehrer hält heute mehr durch bis zum Schluss. Bei keiner anderen Berufsgruppe im öffentlichen Dienst liegt die Rate der Frührentner so hoch wie bei den Lehrern; rund 90 Prozent gehen vor dem 65. Lebensjahr in Pension, mehr als die Hälfte der Frühpensionäre ist unter 60. "Traurige Augen, ausgemergelte Gesichter" hat der Bremer Schulsenator Lemke bei seinen ersten Besuchen in Lehrerzimmern entdeckt. "Viele sind kaputt." Den einen schlägt es aufs Gemüt, anderen bringt es das Herz zum Flimmern oder die Ohren zum Sausen. Ingrid Krumscheid zog es in Rücken und Gelenke. Am Ende konnte sie nur noch mit Schmerztabletten vor der Klasse stehen. "Irgendwann sitzt man da und denkt: Ich kann nicht mehr", sagt sie.

Als der neue Direktor der Helmholtz-Schule am letzten Schultag vor Weihnachten den Frühpensionären des Jahres die Entlassungsurkunde übergab, sprach er von "Powerfrauen", die der Schule fehlen werden. Es sind gerade die Engagierten, Ehrgeizigen, Fleißigen, die krank werden an vielen Schulen. Das haben Wissenschaftler der Universität Potsdam kürzlich herausgefunden.

Selten wird der kräftezehrende Einsatz durch Erfolgserlebnisse belohnt. Von Schülern kann man nicht erwarten, dass sie ihre Lehrer lieben und loben. Vor manchen Eltern muss man sich eher in Acht nehmen, da sie, wenn es sein muss, das schlechte Zeugnis ihres Kindes notfalls vor Gericht anfechten. Und dann der schlechte Ruf der Lehrer in der Öffentlichkeit. "Ich sag schon gar nicht mehr, dass ich Lehrerin bin", so Ingrid Krumscheid. Dann wird sie nämlich permanent gefragt, ob sie Tennis spiele und warum sie gar nicht braun sei. "Ich kann das nicht mehr hören."

Lehrer bleiben oft ihr Leben lang an einer Schule. Ihre Aufstiegschancen sind gering. Da es kaum Personalwechsel in deutschen Kollegien gab, waren die wenigen besser dotierten Stellen auf Jahre besetzt. Von A 13 auf A 14, das schaffen viele, dann jedoch ist es aus mit der Karriere. Belohnungen für besondere Leistungen sind nicht vorgesehen. Bestrafungen für Faulheit ebenso wenig. Im Beamtenrecht gilt das Besserstellungsverbot: Alle sollen das Gleiche bekommen. Sozialismus auf hohem Niveau.

Auch von Kollegen ist wenig Anerkennung zu erwarten. Lehrer sind Einzelkämpfer, sie schließen die Klassentür, und kaum jemand beurteilt und kontrolliert, was dahinter passiert. Das schützt sie vor Kritik und bewahrt sie vor Lob. "Im Kollegium will keiner Schwäche zeigen. Man versucht mit den Schwierigkeiten alleine fertig zu werden", sagt Krumscheid.

Die Probleme werden größer, die Lehrer jedes Jahr älter - und obendrein verschlechtern sich auch noch die Bedingungen. Ingrid Krumscheid: "In den letzten Jahren hieß es immer nur: sparen, sparen, sparen."

In Berlin stellt die Sparwut des Senats nach Meinung der Lehrergewerkschaft GEW "die Funktionsfähigkeit der Schulen infrage". Im vergangenen Schuljahr besuchten 20 000 Schüler mehr die Berliner Schulen als im Schuljahr 1992/93. Zusätzliche Lehrer wurden jedoch nicht eingestellt - stattdessen wurden 6400 Stellen gestrichen. Um nahezu 20 Prozent sei die personelle Ausstattung in den Berliner Schulen in den vergangenen acht Jahren geschrumpft, rechnet die Lehrergewerkschaft in einer kürzlich veröffentlichten Dokumentation (Schule in Not) vor. Das Fach, das Lehrer und Direktoren gleichermaßen unterrichten könnten, heißt: Verwaltung des Mangels.

An einer Art Ladentisch, mit dem die Sekretärin des Gymnasiums, Frau Krohm, Schülerhorden auf Distanz hält, hängt eine Postkarte mit dem Faksimile eines Fotos aus den dreißiger Jahren. Es zeigt eine überaus große Schulklasse mit einem Schulmeister, darüber steht in Druckbuchstaben: "Es gibt keinen Lehrermangel. Nur zu viele Schüler." Auf die Rückseite hat eine Lehrerin von Hand geschrieben: "Liebe Frau Krohm, leider hat es mich nun doch auf das Krankenlager gezwungen, ich hoffe jedoch, nicht allzu lange! Anbei meine Krankmeldung ..."

Im Zimmer nebenan sitzt Regine Schürmann, die Leiterin der Marie-Curie-Oberschule in Berlin, an ihrem Schreibtisch hinter einem Berg von Akten und klagt: "Uns fehlen Lehrer." Ein Gymnasium im gutbürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf, rund 900 Schüler, 70 Lehrer. Zur Begrüßung nach den großen Ferien fielen gleich drei Lehrer langfristig wegen Krankheit aus - zwei Englischlehrer und eine Kollegin mit der seltenen Fächerkombination Mathe/Erdkunde. Die Schulleiterin begann zu rotieren. Welche Stunden müssen verschoben werden? Können Kollegen einspringen? Welcher Ersatz ist von der Schulbehörde zu erwarten? "Na, Mathe/Erdkunde wirste nicht kriegen, höchstens Mathe/Physik", sagte sich Schürmann. "Und det ging auf", strahlt sie. "Durch Schieben. Det lief über den Kollegen, der Physik/Erdkunde hat."

Die Lücke, welche durch die zwei fehlenden Englischlehrer entstanden war, ließ sich nicht so einfach schließen. Englischlehrer sind in ganz Berlin nicht mehr zu bekommen. "Der Unterricht ist erst mal ausgefallen", sagt Schürmann. Um wenigstens das Englisch-Abitur nicht zu gefährden, sprang Regine Schürmann selbst ein und erteilt nun zusätzlich fünf Stunden Unterricht.

Dabei füllt sie bereits zwei Funktionen aus: Sie vertritt sich nämlich selbst, da die Position des stellvertretenden Schulleiters seit Jahren unbesetzt ist. Der ist unter anderem zuständig für eine der kompliziertesten Aufgaben in jeder Schule: Er muss den Stundenplan zusammenstellen, und das heißt heutzutage, Vertretungen zu organisieren. Aber hilft dabei nicht der Computer? Regine Schürmann fährt hoch: "Der Stundenplan isses ja nicht allein!" Würde sie keine Rücksicht auf die vielen Schwächen und Wünsche, Ausnahmen und Ausfälle nehmen, "produziere ich nur neue Probleme und neuen Unterrichtsausfall". Der Kollegin mit dem Rückenleiden etwa könne sie nicht sechs Stunden Unterricht am Stück zumuten: "Der bau ich 'ne Springstunde ein." Und die junge Lehrerin, die jeden Morgen erst ihr Kind in den Kindergarten bringen muss, kann eben immer nur zur zweiten Stunde anfangen. Kommt dann um halb acht morgens ein Anruf mit einer weiteren Krankmeldung, gerät die ganze komplizierte Stundenstatik ins Wanken. Denn Kinder sind nun einmal keine Akten, die man auch in der nächsten Woche bearbeiten kann. Sie warten in wenigen Minuten vor dem Klassenraum auf ihren Lehrer oder seine Vertretung.

Einer Erhebung des Berliner Landesschulamts zufolge fallen von den 575 000 Unterrichtsstunden in Berlin jede Woche rund 60 000 "zur Vertretung an". Nur 32 000 davon werden tatsächlich vertreten, die restlichen 28 000 fallen aus. Heidemarie Eller von der Elterninitiative Aktion Bildung ärgert, dass nur diese 28 000 Stunden in der Statistik zum Unterrichtsausfall auftauchen - und so die Zahlen über den wirklichen Lehrerbedarf schönen. Dabei besteht der Vertretungsunterricht oft nur aus Hausaufgabenbetreuung. Was soll ein Biologielehrer, der für einen Lateinkollegen einspringt, auch anderes machen?

Mit Tricks wollen Behörden den Lehrermangel verschleiern

Für Lehrer und Eltern ist das Zahlenspiel nur eines von vielen Beispielen, wie die Schulverwaltung versucht, sich den Mangel schönzurechnen, den sie mit ihrer Sparpolitik verursacht hat. Ein weiterer Trick, den Lehrerbedarf zu kaschieren, ist die Erhöhung der Klassenstärken. Im bundesweiten Vergleich hat Berlin mit bis zu 32 Schülern inzwischen die größten Realschul- und Gymnasialklassen, etwas besser stehen nur die Hauptschulen da.

Zugleich strichen die Berliner Kultuspolitiker die Stundentafeln rigoros zusammen: Weil die Zahl der Lehrer nicht mehr für die volle Stundenzahl ausreicht, definiert man den Unterrichtsbedarf einfach offiziell herunter: In der vierten Klasse gibt es eine Stunde Sachkunde weniger; in der siebten fehlt eine Stunde Physik auf dem Stundenplan, in der achten schrumpft der Erdkundeunterricht. Binnen einem Jahrzehnt wurde der Umfang eines ganzen Schuljahrs eingeschmolzen. "Unsere Kinder haben nur noch zwölf Jahre Unterricht, müssen aber weiter dreizehn Jahre zur Schule gehen", schimpft Heidemarie Eller von der Aktion Bildung. "Sie verlieren ein ganzes Lebensjahr, und das in einer Zeit, in der Menschen am lernfähigsten sind."

In vielen Bundesländern betreiben Kultusminister Schulpolitik nach Kassenlage - gemäß dem Motto: Unterrichtsbedarf ist, was das Budget hergibt. So hat sich das Verhältnis Schüler pro Lehrer nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln seit 1990 um 10 Prozent erhöht - sprich: verschlechtert. Ebenso sind die offiziellen Unterrichtsstunden in fast allen Bundesländern gesunken, besonders schlimm unter der SPD-Regierung in Hessen. Hier erreichte die Unterrichtsversorgung zeitweise nur 90 Prozent.

Und damit nicht genug: Immer mehr Unterrichtsstunden werden von fachfremden Lehrern bestritten. So werden in den fünften und sechsten Klassen Berliner Grundschulen rund drei Viertel der Biologie- und Kunststunden von Lehrern gehalten, die diese Fächer nie studierten. Auch die Gymnasien bleiben davon nicht verschont. In den Klassen fünf bis sieben werden schon über vier Prozent des Englisch- und fünf Prozent des Französischunterrichts fachfremd erteilt. Statt den Fachlehrermangel durch Neueinstellungen zu lindern, hob Berlins Schulsenator Böger zu Beginn des Schuljahrs die Wochenarbeitszeit der Lehrer um eine Stunde an.

Bei dieser Misere reiche die Arbeit in den zuständigen Gremien, reiche das Engagement von Gewerkschaft, Elternbeirat und Schülervertretung nicht mehr aus, sagt Heidemarie Eller, Mutter zweier Gymnasiasten, elf und dreizehn Jahre alt. Zusammen mit anderen Eltern gründete sie die Aktion Bildung, der ständig neue Eltern aus allen Bezirken zuströmen. Im vergangenen Jahr organisierte die Aktion einen Sternmarsch auf das rote Rathaus und sammelte über 44 000 Unterschriften; eine Abordnung übergab die Sammlung dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen, zusammen mit einem selbst gehäkelten Flickenteppich: Symbol für die Berliner Bildungspolitik.

Es sind überwiegend Bildungsbürger, die sich der Aktion angeschlossen haben und die um die Zukunftschancen ihrer Kinder bangen. Eltern von Hauptschülern, bedauert Eller, fänden sich nur wenige unter den Aktivisten.

"Hier fällt Unterricht aus, und keiner merkt es. Eltern von Hauptschülern interessieren sich nicht", sagt Volker Steffens, Leiter der Thomas-Morus-Oberschule, einer Hauptschule in Berlin-Neukölln. Etwa drei Viertel seiner 450 Schüler sind Ausländer, aus 25 Nationen, die meisten davon "doppelte Halbsprachler", wie er sagt. "Die Hauptschule hat keine Fürsprecher", sagt Steffens, bemüht, nicht allzu larmoyant zu klingen. Den Lehrermangel an seiner Schule konnte er in diesem Schuljahr durch verstärkten Einsatz von fachfremdem Unterricht ausgleichen. "Wir brauchen Mathe, Physik, Chemie, und bekommen haben wir Deutsch und Geschichte", berichtet er lakonisch. "Da muss man sich beim Stundenplanbau verbiegen."

Der Fachlehrermangel ist jedoch nicht sein größtes Problem, sondern die Betreuung der Schüler. Viele kommen, sagt er, "aus verwahrlosten, aus erziehungsresistenten Elternhäusern". Um zu verhindern, dass sie seine Schule auseinander nehmen, startete Steffens das Projekt "Schule in erweiterter Verantwortung" - eine Mischung aus Nachhilfe und Beschäftigungstherapie.

In Deutsch, Mathematik und Englisch, den Fächern mit den größten Defiziten, wird verstärkt Förderunterricht erteilt. Zeitweise wird "der Stundenplan aufgelöst", so Steffens, und mehrere Lehrer unterrichten im Team. Nachmittags werden Kosmetik-, Computer- und Führerscheinkurse angeboten. Die Kapazitäten für die neuen Angebote schuf Steffens, indem er jede Unterrichtsstunde um fünf Minuten kürzte. Denn es kommt darauf an, dass er seine Schüler "bis 16 Uhr von der Straße" hat.

Mit dem Programm übernimmt Steffens, was durch die Schließung vieler so genannter Schulstationen zunehmend brachliegt. Die Schulstationen wurden Anfang der neunziger Jahre eingerichtet, um verhaltensauffällige Schüler zu betreuen. Auch Kinder, die einfach nur Ruhe brauchen, können sich hier zurückziehen. Statt, wie noch im Koalitionspapier von SPD und CDU vereinbart, in den Stationen Vollzeiterzieher zu beschäftigen und sie nicht weiter nur mit ABM-Kräften zu betreiben, werden diese Einrichtungen nun reihenweise geschlossen, allein bis Mitte des vergangenen Jahres rund 30 von 130.

Auch die schulpsychologische Beratung wurde radikal zusammengestrichen. Dabei wäre angesichts wachsender Probleme von Kindern und Jugendlichen wie Armut, Gewalt oder Stress "eine Ausweitung der Therapieangebote dringend notwendig", so die GEW.

"Rund 75 Prozent der Arbeit eines Hauptschullehrers bestehen aus Sozialarbeit", ist die Erfahrung von Karla Werkentin, Leiterin der Heinz-Brandt-Hauptschule im Ostberliner Stadtteil Weißensee, die vor drei Jahren aus dem Westen kam. "Wir haben die Schüler, von denen Sie später nicht in der ZEIT lesen, sondern in der Bild."

Im Unterschied zu den Schulen im Westen sind die im Osten noch gut dran, was Lehrer betrifft. Die Geburtenrate ging dort nach der Wende rapide zurück, was sich jetzt in den Schulen auszuwirken beginnt. Auch hat bis heute der Exodus der Bevölkerung von Ost nach West angehalten. In Berlin wurden deshalb kürzlich mehrere hundert Grundschullehrer vom Ost- in den Westteil versetzt.

Der bauliche Zustand der Schulen im Osten ist hingegen erbärmlich. Schulsprecher Leroy führt durchs Haus, einen Backsteinbau aus der Gründerzeit. Das Mobiliar verströmt ungebrochen den Charme der DDR, im Chemie-Vorbereitungsraum lagern noch jede Menge Chemikalien vom VEB Laborchemie Apolda aus den siebziger Jahren. Als Pipetten dienen abgeschnitte Babyschnuller. In der Decke der Turnhalle klaffen große Löcher. Die Schultoiletten stinken. Er habe sie aus Ekel noch nie benutzt, sagt Leroy. Lediglich der Anbau für die Arbeitslehre wurde renoviert und mit modernen Geräten bestückt.

In einigen Fächern wird jeder junge Absolvent eingestellt

Schulsenator Böger hat jetzt ein Programm zur Sanierung von Schulen beschlossen; Jahr für Jahr will er dafür 100 Millionen Mark ausgeben. Auch dem Lehrermangel will er nun entschlossen entgegentreten. Allen Teilzeitkräften wurden Vollzeitstellen angeboten. Und um Kosten zu sparen, will er mehr angestellte Lehrer zu Beamten machen, weil für sie keine Sozialabgaben zu zahlen sind - und die Pensionszahlungen, die den Staat sehr viel teurer kommen, werden der nächsten Generation aufgeladen.

Die Folgen jahrelanger Kahlschlagpolitik lassen sich so kaum beheben. In den nächsten Jahren werde trotz rückläufiger Schülerzahlen "ein zunehmender Einstellungsbedarf" entstehen, heißt es vorsichtig in einer Senatsvorlage der Schulverwaltung. Doch woher sollen die neuen Lehrer kommen? Die Zahl der Absolventen von Lehramtsstudiengängen schwindet seit Jahren, ebenso die Zahl arbeitsloser Lehrer. Schon jetzt wirbt Berlin dem Nachbarland Brandenburg Lehrer ab. "Kurz- und mittelfristig werden wir den Bedarf noch decken können", sagt Böger, "doch vom Jahr 2004 an werden die Absolventenzahlen zu gering sein. Wir müssen für den Lehrerberuf werben."

Das Auf und Ab von Bedarf und Angebot nennen Experten Schweinezyklus, nach einem Phänomen in der Landwirtschaft: Ist Fleisch knapp und teuer, schlachten viele Bauern ihre Schweine. Es kommt zum Überfluss, die Preise sinken, was wiederum die Landwirte veranlasst, weniger Schweine zu mästen. Mangel setzt ein, und der Zyklus beginnt von neuem. Auf dem Lehrerarbeitsmarkt geht es ähnlich zu, schon seit langem. Der Lüneburger Sozialhistoriker Hartmut Titze hat die "wiederkehrenden Zyklen von Überfüllung und Mangel" bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts zurückverfolgt.

Fast drei Jahrzehnte liegt der Beginn der letzten großen Lehrer-Einstellungswelle zurück. Ein Gelehrter namens Georg Picht, Berater der Kanzler Erhard und Kiesinger, hatte entdeckt, dass Deutschland auf eine "Bildungskatastrophe" zusteuere. Um künftig mit anderen Ländern wirtschaftlich mithalten zu können, brauche das Land mehr Akademiker. Fortan expandierten die Universitäten, die Zahl der Gymnasiasten schoss in die Höhe, die Schulzeit verlängerte sich, die Klassen wurden kleiner.

Diese Bildungsexpansion - eine der wichtigsten sozialen Veränderungen des 20. Jahrhunderts - benötigte neue Lehrer, viele Lehrer. Hunderttausende wurden neu eingestellt - und blieben dreißig Jahre lang auf ihren Posten. Bis Anfang der achtziger Jahre dauerte der Boom, danach wurde es für Lehramtsstudenten düster. Neue Stellen kamen nicht hinzu, alte wurden nicht frei. Selbst auf ein Referendariat mussten die Hochschulabsolventen bis zu einem Jahr warten. Zudem gingen die Bundesländer dazu über, die Einstellungsbedingungen für Referendare zu verschlechtern. Sie drückten das Gehalt, boten neuen Lehrern nur Teilzeitjobs statt voller Stellen an, nur Angestelltendasein statt sicheren Beamtentums.

Von solchen Aussichten ließen sich die Studenten in die Flucht schlagen, sie wanderten in andere Studiengänge ab. Dabei hätte man sich bereits vor Jahren ausrechnen können, dass mit der Pensionierung der Lehrer aus der 68er-Generation massenhaft Stellen frei würden. "Doch kaum jemand studiert gegen den Trend", sagt der Essener Forscher Klaus Klemm. Genaue Vorhersagen über den groben Bedarf hinaus, welche Fächer wann genau gebraucht werden, seien ohnehin sehr schwierig. Die Bedarfsrechnungen haben zu viele Unbekannte: die Fächerkombination der Studienanfänger, die Kassenlage der Kultusministerien, neue bildungspolitische Schwerpunkte. Die "volle Halbtagsschule" etwa, die berufstätigen Müttern von Grundschülern gewährleistet, dass ihre Kinder bis 13 Uhr in der Schule versorgt sind, hat den Lehrerbedarf erhöht. Vor drei Jahren war das nicht abzusehen.

Klemm selbst hat vor zwei Jahren noch vom Lehrerstudium abgeraten - ähnlich wie Schulbehörden und Bildungsminister. Sie hofften, die jetzige Pensionierungswelle würde sich länger hinziehen und schließlich vom Rückgang der Schülerzahlen ausgeglichen werden, der nach dem Jahr 2010 einsetzen wird.

Doch schon jetzt beginnt der Schweinezyklus zu kippen. Nun sind jene Bundesländer in einer guten Lage, die sich auf das Lohndumping bei den Referendaren nicht eingelassen haben. Hessen kann auch deshalb junge Lehrkräfte aus Nordrhein-Westfalen abwerben, weil Düsseldorf den Neulingen auf dem Gymnasium bis vor kurzem nur noch A 12 statt A 13 zugestanden hat. Das heißt: In Hessen bekommen sie im Schnitt 500 Mark netto mehr.

Nun rudern die Kultusministerien zurück. Hamburg und Schleswig-Holstein räumen Lehrern wieder den Beamtenstatus ein, erzwungene Teilzeitarbeit gibt es nur noch in Ostdeutschland. Obendrein nimmt man in bestimmten Fächern zurzeit jeden Lehrer, der von der Uni kommt. Vor kurzem hieß es zum Beispiel im Hamburger Lehrerseminar noch: Nur mit einer Eins im Examen bekommt man sicher eine Stelle. Heute reicht eine Drei, und schlechtere Noten gibt es ohnehin nicht.

Der Mangel verhilft nun auch solchen Kandidaten zu einem Lehramt, die in den Schulen gar nicht gebraucht werden können, sagt Martin Fischer von der Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren. "Und die bleiben dann 30 Jahre lang." Umgekehrt haben die wahren Talente der vergangenen Jahre, die keine Stelle bekommen haben, längst umgesattelt, sind Journalisten geworden oder Computerfachleute. Als Walter Kern, Schulleiter am Frankfurter Friedrich-Dessauer-Gymnasium, eine Vertretung suchte, erhielt er von der Behörde eine lange Liste mit so genannten arbeitslosen Lehrern. Doch erst der 25. Anruf brachte Erfolg. Die meisten waren nur noch pro forma gemeldet.

So gelangt man nun wieder dort an, wo man bereits Mitte der sechziger Jahre einmal war: Damals wurden für die Grundschulen Hausfrauen mit Abitur eingestellt, später Hochschulabsolventen ohne pädagogische Ausbildung. Heute grübelt Nordrhein-Westfalen über dem Plan, arbeitslose Ingenieure und Pensionäre mit einem pädagogischen Schnellprogramm für die Schule fit zu machen. Auch Hamburg möchte Quereinsteigern künftig den Weg in die Klassenräume ebnen.

Denn junge Lehrer wachsen nur langsam nach: Bis aus einem Erstsemester-Studenten ein ausgebildeter Pädagoge geworden ist, vergehen in Deutschland - Referendariat und Wartezeit inklusive - durchschnittlich acht Jahre. Ein Aufbaustudium fürs Lehramt ist nicht vorgesehen. "Das ganze System ist ungeheuer bürokratisch und unbeweglich", sagt der in Zürich lehrende Pädagogikprofessor Jürgen Oelkers. "Es entspricht dem 19., nicht dem 21. Jahrhundert."

Die Versorgung der Schulen mit Lehrern folgt planwirtschaftlichen Prinzipien, die der DDR-Ökonomie alle Ehre machen. Der Fall Bianca Jung demonstriert diesen Sachverhalt eindrucksvoll. Sie gehört zu den Vertretungslehrern am Frankfurter Helmholtz-Gymnasium. Sie mag die Schule, die Schüler mögen die junge Lehrerin, und die Schule braucht ihre Fächerkombination: Deutsch, Englisch, Spanisch. Trotzdem wird sie im Frankfurter Ostend keine feste Stelle bekommen. Denn im Vergleich mit anderen Schulbezirken gelten Frankfurts Gymnasien als überbesetzt: Hier werden 98 Prozent des Unterrichts auch gegeben, in ganz Hessen nur rund 93 Prozent. Für die Helmholtz-Schule trifft das zwar nicht zu, aber es hilft ihr nicht weiter: Wenn Stellen in Frankfurt frei werden, kommt erst einmal kein Ersatz. Selbst ihre Aushilfslehrer stehen dem Gymnasium nur dann zu, wenn Lehrer krank sind. Geht jemand in den Ruhestand, fällt der so genannte "Vertretungsgrund" weg - und damit auch die Stelle.

Die Industrie zieht Pädagogen aus den Berufsschulen ab

Für das Gymnasium erweist sich die neue Bildungsoffensive der Koch-Regierung deshalb als Übel. Denn die Vertretungslehrer schauen sich nach festen Stellen im Umland um - und werden in Frankfurt fehlen. Bianca Jung überlegt, "ob sie den ganzen Zirkus überhaupt noch länger mitmachen soll". Freunde in Karlsruhe haben eine Computerfirma: "Die suchen immer Leute."

Den Berufsschulen macht die freie Wirtschaft schon seit Jahren die Lehrer streitig. Hier landet nur jeder Zweite, der auf Lehramt studiert, tatsächlich in einer Schule; der Rest zieht eine Privatfirma vor. Wenn Jürgen Fuchs in einer Klasse aus dem dritten Lehrjahr unterrichtet, ist er derjenige im Raum mit dem schlechtesten Gehalt. Rund 1850 brutto verdient er als Referendar an der Johannes-Gutenberg-Schule in Stuttgart. In der Privatwirtschaft käme der studierte Drucktechniker auf mehr als das dreifache Geld. Was Wunder, dass er zurzeit der einzige Junglehrer ist. Doch die Berufsschulen liefern nur Anschauungsunterricht für das, was anderen Schularten noch bevorsteht.

Gerade die Johannes-Gutenberg-Schule könnte Nachwuchs gut gebrauchen. Sie bildet Grafikdesigner und Mediengestalter aus, Modeberufe, in denen die Ausbildungszahlen in den vergangenen Jahren explodiert sind. Leider sind auch in der Privatwirtschaft, in Medienbetrieben und den neuen Computerberufen Fachkräfte knapp. "Da ziehen wir meistens den Kürzeren", sagt Schulleiter Alfred Schäfer. Zehn Lehrer fehlen in seinem Kollegium, den Theorie-Unterricht musste er um 20 Prozent kürzen. In der Abschlussprüfung müssen die Schüler dennoch den ganzen Stoff parat haben. In den Abschlussklassen geht die Angst um. "Schon jetzt sind wir weit im Rückstand", sagt Tobias Merklein, der nicht mit seinem echten Namen in der Zeitung stehen will. Nun wollen er und seine Klassenkameraden die "skandalösen Zustände" im Internet bekannt machen. "Sonst ändert sich nie etwas."

Merkleins Chef kennt die Klagen der Auszubildenden. Er hat sich beim Schulleiter beschwert, mit einem halben Dutzend anderer Firmen die Industrie- und Handelskammer in Stuttgart eingeschaltet. Ohne großen Erfolg. "Medienstandort Stuttgart, heißt es in der Werbung", klagt er. "Und dann ist der Staat noch nicht einmal fähig, unseren Lehrlingen den normalen Unterricht zu garantieren."

Mit den herkömmlichen Instrumenten, die ihm das Beamtenrecht heute bietet, wird er es - zumindest in den Berufsschulen - niemals können. In rasender Fahrt ändert sich die Arbeitswelt außerhalb der Schulmauern. Die Schule kann da nicht einmal mehr reagieren. Der Beruf des Mediengestalters existierte vor vier Jahren überhaupt noch nicht. Wie soll man die Lehrpläne erstellen? Der Lehrstoff ändert sich im Halbjahresrhythmus. "Kaum jemand unterrichtet an dieser Schule noch, was er einst gelernt hat", sagt Schulleiter Schäfer. Der Experte für Computer-Netzwerke ist ausgebildeter Realschullehrer für Englisch und Musik. Würde er sich heute bewerben, hätte er trotz seines Wissens keine Chance. Laut Kandidatenliste beim Schulamt müsste ein anderer den Zuschlag bekommen, der die richtige Ausbildung hat und bessere Noten - auch wenn es ihm an praktischer Erfahrung fehlt. Wollte Schäfer dagegen einen Fachmann aus der Industrie als Lehrbeauftragten gewinnen, konnte er ihm bis vor kurzem nur knapp 400 Mark im Monat bezahlen - für vier Stunden Unterricht die Woche.

Flexibilität bei der Bezahlung und bessere Chancen für Seiteneinsteiger. Das sind die Heilmittel gegen das Übel für Barbara Dorn, Berufsbildungsexpertin bei der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände. Zugleich müssten die Schulen das Recht haben, ihre Lehrer selbst auszusuchen. Nicht mehr die Note wird dann die zentrale Rolle spielen, sondern das, was Lehrer sonst noch vorweisen können: Computerwissen, Türkischkenntnisse, Erfahrungen als Leiter einer Pfadfinder-Gruppe, Berufsjahre im Ausland oder in einer Firma.

Einiges ist in Bewegung geraten. Das Lehramtsstudium soll straffer und kürzer werden. Eine "Kommission Lehrerbildung" in Hamburg hat dazu vernünftige Vorschläge erarbeitet. Sehr zaghaft entlässt der Staat die Unterrichtsanstalten aus der verordneten Unmündigkeit: Sie sollen mehr Spielraum für eigenes Personalmanagement erhalten, eventuell sogar Referendare aus begehrten Fächern mit höheren Bezügen in die Schule locken dürfen. Derartige Anreize sieht das Bundesbesoldungsgesetz bislang nicht vor. Damit nicht nur Gymnasien in noblen Vierteln mit einer reichen Elternschaft von den neuen Freiheiten profitieren, müssten die Behörden so genannte Brennpunktschulen besonders fördern, damit auch diese attraktiv für gute Lehrer bleiben. Mit der Gleichheit im deutschen Lehrerzimmer wird es dann jedoch vorbei sein.

Schon regt sich in nordrhein-westfälischen Gymnasien der Protest, weil die Kultusbehörden, um konkurrenzfähig zu bleiben, die neuen Lehrer wieder mit der Besoldungsstufe A 13 ködern. "Das ist unfair", beschwert sich Petra Dzialdowski, Lehrerin am Gymnasium in Voerde, die vor einigen Jahren noch nach dem A-12-Tarif eingestellt wurde. "Wir erfahrenen Lehrer bekommen Neulinge vor die Nase gesetzt, die mehr verdienen." In einem weniger starren System könnte Dzialdowski eine Schule aussuchen, die auch ihr eine bessere Bezahlung bietet. Doch solch ein Wechsel ist im öffentlichen Dienst nicht vorgesehen. Und solange Lehrer Beamte bleiben, wird sich an dem starren System behördlicher Stellenbewirtschaftung wenig ändern.

Soll man demnächst Lehrer auf Vorrat einstellen?

Die großen Wellen von Lehrermangel und Lehrerüberfluss wird selbst die Abschaffung des Beamtentums in deutschen Schulen nicht beeinflussen. Um aus dem Schweinezyklus auszubrechen, müssten die Kultusministerien langfristig planen und jedes Jahr ein paar neue Lehrer einstellen. Eine solche "stetige Einstellungspolitik" hatte ein Bericht der Kultusministerkonferenz auf Vorschlag des Hamburger Staatsrats Herrmann Lange empfohlen ("Lange-Papier"). Das ist fünf Jahre her, und der Vorschlag stieß auf wenig Resonanz. Denn konkret hieße dies, Nachwuchskräfte auch dann einzustellen, wenn es eigentlich genügend Lehrer gibt. Keine leichte Aufgabe, so etwas in Zeiten knapper Kassen dem Finanzminister zu erklären.

Die Alternative hieße: In den nächsten zehn Jahren viele tausend Lehrer einstellen, dann die Schulen für Neuzugänge zwanzig Jahre dichtzumachen und später das bekannte Problem des Lehrermangels neu zu beklagen. Wiedervorlage 2030.


(c) DIE ZEIT   02/2001   


 



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